Der Masseur als Zeitzeuge

16. August 2021 in 2. Liga Eigentlich wollte Hans Fehringer im Sommer aufhören, doch seinen SKN will er nicht im Stich lassen. Seit 36 Jahren massiert er die St. Pöltner Kicker.

Insgeheim hat Hans Fehringer schon ans Aufhören gedacht. Zu Beginn der letzten Saison, überlegte er, ob das vielleicht die letzte Spielzeit mit seinem Verein sein würde. Niemand hätte es dem 71-Jährigen verdenken können.

Seit 1985 ist er Masseur beim spusu SKN St. Pölten und seinen Vorgängervereinen. Dann aber stieg der Klub ab – und Fehringer konnte einen Rückzug nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren. „Man muss auch in schlechten Zeiten zusammenhalten“, sagt er. „Das macht den Fußball ja aus.“

Seit bald 60 Jahren ist Fehringer Wegbegleiter des St. Pöltner Fußballs. Die Fusion zum VSE St. Pölten, die Verpflichtung von Mario Kempes, den Konkurs und den Wiederaufstieg als SKN – all das hat Fehringer nicht nur aus nächster Nähe miterlebt, er war ein Teil davon. Man muss ihm nicht viele Fragen stellen, seinen Geschichten lässt er freien Lauf. Er erzählt sie humorvoll und in einer ganz bestimmten Sprache: Der Dialekt des gebürtigen St. Pöltners ist dem Wienerischen sehr ähnlich. Wenn er über das Kicken redet, ist das K sehr weich, fast könnte es ein G sein. „Was ich alles mit dem Verein erlebt habe“, sagt er zu Beginn des Interviews. „Das ist schon ein Wahnsinn.“

Der Wahnsinn nahm seinen Anfang, da war Fehringer elf. Damals fing er zum Kicken an. Den SKN St. Pölten gab es noch nicht, die Aushängeschilder der Stadt hießen BSV Voith und die Schwarze Elf, sie spielten in den 1960er Jahren, da war Fehringer noch bei den Junioren, in der zweitklassigen Regionalliga. Doch diese Hochphase des St. Pöltner Fußballs hielt nicht lange an, wenig später kämpften beide Vereine ums Überleben. Sie fusionierten 1973 und nannten sich fortan VSE – Voith-Schwarze-Elf.

Große Ambitionen hegte man nicht, in den ersten Jahren pendelte die VSE zwischen Landes- und Unterliga, Fehringer war mit dabei. „Ich war kein großer Kicker“, sagt Fehringer und lacht. „Ich war eher ein Reinhauer.“ Und weil er dabei nicht ganz zimperlich war, verletzte er sich immer wieder. Schon damals begann er sich für Behandlungsmethoden zu interessieren.

Anfang der 1980er-Jahre wurden die gesundheitlichen Probleme schließlich zu groß, die Adduktoren hören nicht mehr auf zu schmerzen. Fehringer beendet seine Karriere. Doch anstatt sich voll und ganz seiner beruflichen Laufbahn zu widmen, bleibt er dem Verein erhalten. Anton Malatinsky, der tschechoslowakische Meistertrainer, den es 1982 zum VSE verschlagen hatte, fragt ihn, ob er nicht bleiben und als Masseur die Mannschaft unterstützen möchte. Fehringer will, nutzt sein Vorwissen und macht eine Ausbildung in Wien. 1985 wird er offiziell Masseur des Teams.

Auf Fehringer war seither immer Verlass – und das obwohl er nie hauptberuflich beim Verein arbeitete. Als er noch nicht pensioniert war, opferte er ihm Freizeit und viel Schlaf. Damit er pünktlich nach den Trainingseinheiten für die Behandlungen in der Kabine sein konnte, begann er seinen Brotjob im Magistrat der Stadt meistens schon um sechs Uhr in der Früh. Manchmal, wenn die Mannschaft zwei Mal täglich trainierte und Fehringer schon am Vormittag gebraucht wurde, nahm er sich Zeitausgleich, für die Trainingslager manchmal sogar Urlaub. Während den Spielen nimmt er auf der Betreuerbank Platz. „Wenn ich etwas mache, dann mache ich es gescheit“, sagt er. „Und ich hab es immer gern getan.“

Wenn Fehringer heute in den Katakomben der NV-Arena über seine Geschichte spricht, zählt er ehemalige Mitspieler, Trainer und Funktionäre auf, als würde er über Familienmitglieder reden. Und als sei völlig klar, wer gemeint ist. Karl Daxbacher, der zwei Mal in St. Pölten Trainer war, nennt er Karl, Alfred Tatar Fredl. Die Nachnamen sagt er nur in Ausnahmefällen dazu.

Noch liebevoller klingt Fehringer, wenn er über den Voith-Platz spricht. Der Fußballplatz südlich des Stadtzentrums war von 1951 bis 2012 die Heimat des St. Pöltner Fußballs. „Unser Stadion jetzt ist super“, sagt Fehringer. „Aber der Voith-Platz war einfach das Überdrüber.“ Es war eine Anlage englischen Zuschnitts. Eng war es, Laufbahn gab es keine. Stehplatztribünen umrahmten das Feld, nur auf der Haupttribüne konnte man sitzen. Erst 1988 wurden Flutlichter installiert. Als sie am Abend des 13. September jenes Jahres das erste Mal brannten, kamen 10.000 Leute zum Match gegen die Wiener Austria. Bei den Veilchen liefen Herbert Prohaska, Erich Obermayer und der junge Andreas Ogris auf, doch der größte Star war nicht aus Wien angereist. Er war Mittelstürmer bei den St. Pöltnern: Mario Kempes, Weltmeister 1978 mit der argentinischen Nationalmannschaft.

Denn bald nachdem Fehringer vom Spieler zum Masseur umgesattelt hatte, begannen beim Verein die Begehrlichkeiten zu wachsen. 1986 stieg der VSE in die Regionalliga auf, als im Jahr darauf der Durchmarsch in die zweite Division glückte, war Kempes gerade von der Vienna gekommen. Schon zwei Jahre davor hatten die Niederösterreicher den ehemaligen Europameister Antonin Panenka von Rapid geholt. „Natürlich ist es etwas besonderes, solchen Kickern die Beine zu massieren“, sagt er. „Aber sie waren nicht überheblich. Wir haben uns auch privat gut verstanden.“ So passte Fehringers Frau auf den Sohn und die Tochter von Kempes auf, mit den Panenkas freundeten sie sich an. Schon öfter hat sie das Ehepaar zuhause, in einem Prager Vorort, besucht. Panenka blieb bis 1987, Kempes bis 1990.

Doch Fehringer erinnert sich nicht nur an die Stars, die in St. Pölten spielten. Er redet gerne über Kempes und Panenka, aber genauso viel erzählt er über Hans-Peter Frühwirth und Leopold Rotter. Auch die beiden Verteidiger waren in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zum VSE gekommen und trugen zum Erfolgslauf der Mannschaft bei. „Das waren einfach klasse Burschen“, sagt der Masseur. „Wenn sie mich gefragt hätten, ob ich ihnen ein Wurstsemmel vom Greißler hole, hätte ich das sicher gemacht. Weil ich gewusst habe, sie würden dasselbe für mich machen.“

Doch als Frühwirth und Rotter den Verein 1998 verließen, lag dort vieles im Argen. Die St. Pöltner hatten sich übernommen. Sie waren 1988 erstmals in der Vereinsgeschichte in die erste Liga aufgestiegen, sechs Jahre hielten sie sich dort. Doch oben mitspielen konnten die Niederösterreicher nie, der siebte Platz in der Saison 1989/1990 war das höchste der Gefühle. Das Zuschauerinteresse sank. Waren in der Debütsaison in der höchsten Spielklasse durchschnittlich fast 6.000 Leute zu den Heimspielen gekommen, waren es am Ende des Abenteuers in der Bundesliga nicht einmal mehr die Hälfte.

Auf den Abstieg folgte die finanzielle Not. Der Klub fusionierte 1998 mit dem ebenso hochverschuldeten SV Gerasdorf zum FCN St. Pölten und ließ sich beinahe von windigen Geldgebern verführen. Ein vermeintlicher Investor, Benjamin Englisch, wurde beim Verein vorstellig, er könnte mehrere Milliarden Schilling vermitteln. „Der hat uns das Blaue vom Himmel versprochen“, sagt Fehringer. „Der Vorstand hat das alles glauben wollen, aber ich war skeptisch.“ Zu zweifeln begonnen hat Fehringer, als Englisch seine Pläne für eine Auswärtsfahrt nach Bregenz vorlegte. Die Mannschaft sollte nicht wie gewöhnlich mit dem Bus nach Vorarlberg reisen, erklärte Englisch. „Zuerst habe ich mir gedacht: ‚Super, Zugfahren ist eh besser‘“, erinnert sich Fehringer. „Aber dann hat er gesagt, wir fliegen mit dem Großraumhubschrauber. Da habe ich mich gefragt, in welcher Welt der lebt.“

Englisch verschwand bald darauf, das versprochene Geld floss nie. Am Schluss hatten die St. Pöltner nur mehr ihre Schulden. Im Winter 1999/2000 entzog die Bundesliga dem VSE zunächst die Lizenz, dann wurde das Konkursverfahren eröffnet. Der Verein wurde aufgelöst, der Ball sollte nicht mehr rollen. Auch über zwanzig Jahre danach merkt man Fehringer an, dass ihn diese Episode schmerzt. „Das hat mich wirklich getroffen“, sagt er. „Auf einmal hat es geheißen, meinen Verein soll es nicht mehr geben.“ Als der Verein im Juli 2000 als SKN neu gegründet wird, ist Fehringer wieder mit dabei. Als Masseur wird er zum Rückgrat eines Vereins, der den Weg zurück in den Profifußball schafft.

Heute lässt Fehringer es ruhiger angehen. Als er 2016 das erste Mal überlegte aufzuhören und dann doch weitermachte, entschied er sich, die Trainingslager künftig auszulassen. Auch die Bestellungen an Salben und Material, das wie Tapes für die Behandlungen gebraucht wird, übernehmen mittlerweile jüngere Kollegen. Schon lange ist er nicht mehr der einzige Masseur der Mannschaft, sie hat mittlerweile ein ganzes Team an Physiotherapeuten. Aber wenn er gebraucht wird, ein Kollege auf Urlaub ist oder die Sauna wegen der Hygienevorschriften öfter desinfiziert werden muss, kann sich der Verein auf ihn verlassen. „Sie müssen mich nur anrufen“, sagt er. „Dann bin ich da.“

Doch vielleicht geht die Ära Hans Fehringer im kommenden Sommer tatsächlich zu Ende. Geht es nach ihm, wird diese Saison nun wirklich die letzte sein, in der er Wadeln massiert und auf der Betreuerbank Platz nimmt. Sollte der SKN den Wiederaufstieg schaffen, sagt er, werde er als Masseur aufhören. Davon, dass die Mannschaft das schafft, geht er aus. Doch auch danach wird es den SKN nicht ohne Fehringer geben. „Ich gehe dann auf die Tribüne und wenn mir etwas nicht passt, werde ich reinschreien“, sagt er. „Das wird leiwand.“

Text: Moritz Ablinger | Fotos: SKN St. Pölten

Dieser Artikel ist im offiziellen Journal der 2. Liga erschienen – erhältlich bei allen Klubs der 2. Liga.

Artikel teilen: